TL;DR#
Schwellenwerte sind entscheidend, um Nachhaltigkeit messbar und vergleichbar zu machen. Ohne klare Referenzwerte bleibt die Aussagekraft von Berichten begrenzt auf absolute ESG impacts. Im Rahmen der EU-Berichtspflicht können Unternehmen den Schwellenwert selbst festlegen, ab wann ein ESG-Thema wesentlich ist und sie darüber berichten müssen. Dies reduziert zwar die Komplexität der Berichterstattung, untergräbt aber die Logik von Nachhaltigkeit. Ohne Kontext und Schwellenwerte lassen CSRD-konforme Berichte keine Aussage über Nachhaltigkeit zu.
Vor Kurzem durfte ich an einer CSRD-Konferenz teilnehmen, die vom Münchner Kreis organisiert wurde. Es war eine spannende Veranstaltung, besonders für diejenigen, die sich bereits mit dem Thema des non-financial ESG (oder wie es häufiger genannt wird - Nachhaltigkeits-) Reporting beschäftigen. In diesem Beitrag möchte ich auf einen Punkt eingehen, der in den verschiedenen Impulsvorträgen mehrfach direkt und indirekt angesprochen wurde: Schwellenwerte.
Ohne Schwellenwerte keine Vergleichbarkeit über Nachhaltigkeit#
Schwellenwerte spielen für Nachhaltigkeit und damit auch für Nachhaltigkeitsberichte und -management eine elementare Rolle. Warum sie so wichtig sind, wurde in einem der Impulsvorträge mit einem Satz auf den Punkt gebracht.
Ein Dienstleistungsunternehmen stellte seinen Prozess und seine Erfahrungen vor, einen CO2-Fußabdruck für ihr Unternehmen zu berechnen, einschließlich einiger Scope-3-Kategorien (Emissionen in der Wertschöpfungskette). Um die Zahl ein bisschen einordnen zu können, wurden die Pro-Kopf-Emissionen berechnet. Die entscheidende Aussage (sinngemäß wiedergegeben) fiel in diesem Zusammenhang:
“Ob die 2,1 t CO2e pro angestellte Person jetzt gut oder schlecht ist - keine Ahnung, der Schnitt in Deutschland ist wesentlich höher, aber dort fällt ja auch die produzierende Industrie mit rein.”
Wie bringt dieser Satz jetzt die Bedeutung von Schwellenwerten auf den Punkt? Er zeigt, dass die absolute Menge von 2,1 t es nicht erlaubt zu bewerten, ob es jetzt gut oder schlecht und noch weniger ob es nachhaltig ist oder nicht. Es braucht einen Schwellenwert von x t CO2e pro angestellte Person (0t by the way), ab dann kann man das Unternehmen in dieser Hinsicht als nachhaltig betrachten.
Jetzt könnten wir natürlich sagen: “Das Problem der Vergleichbarkeit wird ja genau durch die Berichtspflicht adressiert und gelöst, indem Unternehmen gleicher Branchen nach dem gleichen Standard berichten können sie miteinander verglichen werden.” Und ja, das stimmt.
Jedoch kann ich dann immer noch keine Aussage darüber treffen, ob die x t CO2e pro Person nachhaltig ist oder nicht (again 0t wären es), sondern lediglich kann ich die Unternehmen untereinander vergleichen - ein Best-in-Class-Ansatz. Um eine Aussage über Nachhaltigkeit treffen zu können, braucht es immer Kontext und einen Referenzwert.

Warum Kontext Entscheidend Ist#
Nehmen wir ein drastisches Beispiel, um zu verdeutlichen, was damit gemeint ist. In diesem Beispiel sind Unternehmen Eltern und die CO2-Emissionen sind die Häufigkeit, wie ihre Kinder geschlagen werden. Das Elternpaar berichtet jetzt: “Also, wir haben unsere Kinder letztes Jahr zweimal geschlagen.” Ein Vergleich zu anderen Eltern kann ergeben, dass der Durchschnitt ihre Kinder wesentlich häufiger schlägt. Sind deswegen die zwei Schläge unserer Beispiel-Eltern gut? Nein, weil unser Vergleichswert nicht die anderen sind, sondern ein Referenzwert, auf den wir uns als Gesellschaft geeinigt haben: Nur keine Schläge sind gut.
Nachhaltigkeit Braucht Klare Referenzwerte#
Dies ist gleich bezüglich Nachhaltigkeit: Entweder haben wir eine gesellschaftliche Norm (z.B. kein Hunger, keine Armut, keine Kinderarbeit etc.) oder einen wissenschaftlich ermittelten und physischen Referenzwert (planetare Grenzen). Hier ist es vollkommen egal, ob andere Menschen, Eltern, Unternehmen oder Nationen besser oder schlechter sind - überschreiten wir diese Grenzen zu lange, zerstören wir unsere Lebensgrundlage. PUNKT
Deshalb braucht eine Nachhaltigkeitsaussage immer einen Referenzwert, einen Teiler sozusagen McElroy 2008. Z.B. interessiert mich, wie nachhaltig ein Land bezüglich des Kriteriums Armut ist, bietet das Durchschnittseinkommen keine und die Einkommensverteilung eine geringe Aussagekraft. Was interessiert, ist das Verhältnis von Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, zur Bevölkerungsanzahl - je näher die Zahl bei 0, desto nachhaltiger, und wenn sie gleich null ist, dann ist es nachhaltig.
Der Subjektive Schwellenwert Bei Der Wesentlichkeitsanalyse Ist Problematisch#
Nun gibt es noch ein zweites Schwellenwert-Problem in der CSRD, nämlich der Schwellenwert, ab wann ein Thema wesentlich ist und Unternehmen darüber berichten müssen. Dieser Schwellenwert wurde mehrfach explizit genannt in verschiedenen Impulsvorträgen. Der Schwellenwert wurde beschrieben als Instrument, um die Komplexität beim Erstellen des CSRD-Reports zu reduzieren - indem der Umfang an Themen (und damit zu berichtenden Datenpunkten) reduziert wird.

Kurzer Exkurs zur Doppelten Wesentlichkeitsanalyse#
Die doppelte Wesentlichkeitsanalyse der CSRD ist ein zentrales Instrument zur Bestimmung der relevanten Umwelt-, Sozial- und Governance-Themen (ESG-Themen) für ein Unternehmen. Alle Themen, die die finanzielle Leistung und Position des Unternehmens beeinflussen können, oder alle Themen, die durch Geschäftstätigkeiten des Unternehmens wesentlich beeinflusst werden, müssen berichtet werden. Dies soll zu einer transparenteren und ganzheitlicheren Berichterstattung führen, ohne Unternehmen mit Themen zu belasten, auf die sie keinen Einfluss haben. In dem Berichtsstandard ist auch ziemlich ausführlich geregelt, wie diese Analyse durchzuführen ist.
Es wurde des Weiteren als operativer Tipp genannt, sich an der Auswahl und dem Umfang an Themen zu orientieren, welche Early Adopters der CSRD der eigenen Branche gelistet haben. Dieser Tipp ist zwar praktisch, weil er konkret ist, recht einfach umsetzbar und vor allem Aufwand reduziert, welcher nötig ist/wäre, um den Wesentlichkeitsschwellenwert festzulegen. Gleichzeitig ist es jedoch problematisch, weil durch den subjektiven Schwellenwert die Logik von Nachhaltigkeit konterkariert wird. Wieso?
Ein Fiktives Beispiel: Das Dienstleistungsunternehmen und die Biodiversität#
Stellen wir uns ein fiktives Dienstleistungsunternehmen vor, das sich auf IT-Beratung spezialisiert hat. Bei der Erstellung ihres Nachhaltigkeitsberichts orientiert sich das Unternehmen an den Themen, die von Early Adopters der CSRD in ihrer Branche gelistet wurden. Nun fällt (fiktiv!) das Thema Biodiversität nicht in ihren gewählten Schwellenwert und wird daher nicht als wesentlich betrachtet und folglich nicht berichtet. Auf den ersten Blick mag das sinnvoll erscheinen: Ein IT-Dienstleister hat wenig direkten Einfluss auf die Biodiversität, oder?
Warum Biodiversität (ich würde behaupten immer) wesentlich ist#
Biodiversität ist nicht nur ein ökologisches Thema, sondern auch ein wirtschaftliches. Studien zeigen, dass etwa 50% des globalen Bruttoinlandsprodukts (GDP) durch den Verlust der Biodiversität bedroht sind. Das bedeutet, dass die Stabilität und das Wachstum der Wirtschaft stark von der Gesundheit unserer Ökosysteme abhängen. Wenn Biodiversität verloren geht, verlieren wir nicht nur Artenvielfalt, sondern auch die Ökosystemdienstleistungen, die diese Arten bieten – wie Bestäubung, Wasserreinigung und Klimaregulierung.
Für ein IT-Dienstleistungsunternehmen mag das auf den ersten Blick irrelevant erscheinen, aber das ist es keineswegs. Die Stabilität der Märkte, in denen das Unternehmen operiert, die Verfügbarkeit von Ressourcen und sogar die Gesundheit der Mitarbeiter können durch den Verlust der Biodiversität beeinträchtigt werden. Wenn Ökosysteme zusammenbrechen, hat das weitreichende Auswirkungen auf alle Wirtschaftssektoren, einschließlich der IT-Branche.
Die Logik der Nachhaltigkeit: Planetare Grenzen und soziale Decken#
Ich ziehe zwei Konsequenzen daraus:
- a) Subjektive Schwellenwerte reduzieren zwar den Aufwand für einen CSRD-Bericht, da nicht über alle Themen berichtet wird, jedoch entfernt man sich dadurch weiter von einem Nachhaltigkeitsbericht hin zu einem allgemeinen ESG-LaLaLand siehe Ralph Thurm (was nicht heißt, dass diese Praxis nicht im Einklang mit der CSRD oder der ESRS steht - bloß halt nicht mit Nachhaltigkeitskriterien).
- b) Um der Logik von Nachhaltigkeit gerecht zu werden, ist jedes Thema wesentlich, sobald das gesamtgesellschaftliche Kapital in diesem bedroht ist. Z.B. bezogen auf das Konzept der planetaren Grenzen und der sozialen Decken (doughnut economy). Planetare Grenzen definieren die ökologischen Limits, innerhalb derer die Menschheit sicher operieren kann, während soziale Decken die Mindestanforderungen an ein menschenwürdiges Leben darstellen.
Wenn ein Unternehmen durch seine Aktivitäten zur Verschärfung dieser globalen Probleme beiträgt oder davon betroffen ist/sein könnte, dann ist das Thema per Definition wesentlich für das Unternehmen.
Was folgt daraus?#
Operativ übersetzt heißt das: Sobald es Einflüsse, Risiken oder Chancen gibt, ist das Thema wesentlich. Wie können solche Einflüsse, Risiken und Chancen auftauchen? Durch die Beteiligung von Betroffenen. Hier sticht qualitative Beteiligung hervor. Welche Implikationen hat das?
- Es geht nicht darum, eine Umfrage zu machen und ein Thema aufzunehmen, nur weil es häufig genannt wird.
- Eine Einladung von NGOs, die in den jeweiligen Themen aktiv sind, kann helfen, besser zu verstehen, ob ein Thema wesentlich ist. Es ist absurd zu erwarten, dass man in allen Nachhaltigkeitsthemen fit ist, dafür ist das Thema viel zu komplex und umfangreich. Experten zu suchen, macht daher mehr als Sinn. Und ich meine wirkliche Experten, nicht nur allgemeine Berater, die zu den Berichtsvorschriften sprechfähig sind (so wie ich - hust…).
- Die Komplexität zu akzeptieren und eine Einstellung zu haben, die Änderungen willkommen heißt, ist sinnvoll. Frei nach dem Motto: “Im letzten Bericht haben wir folgende Themen als nicht wesentlich bewertet - ihr seid anderer Meinung? Schreibt uns!” Die Einstellung, die dahinter steht, ist der zwanglose Zwang des besseren Arguments.
Dies ist jedoch noch ein recht unausgegorener Ansatz. Wenn du, liebe_r Leser_in, Verbesserungsvorschläge hast, freue ich mich, dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments zu folgen.